Historikerin Helga Ullrich-Scheyda ging der Frage nach, wer eigentlich die Klever Nazis waren. Ihr Vortrag stieß auf riesiges Besucherinteresse.

Alwin Görlich war schon früh von der Sache überzeugt. 1925 trat er in die NSDAP ein. Er war der erste Stadtverordnete, der für die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei in Kleve ins Rathaus zog. Wenn seine Bewegung erst mal an die Macht käme, so drohte er, dann würde es den anderen schlecht ergehen. Vorläufig wehrten sich die anderen, gerne auch mittels der Justiz. Dann kam das Jahr 1933, und als man seine Ratskollegen von der SPD und der KPD ins Café Paris an der Emmericher Straße brachte, um sie dort zusammenzuschlagen, war er auf Seiten der Täter mit dabei.

Leute wie Görlich wird es überall in Deutschland gegeben haben – fanatische Vorkämpfer, die letztlich sogar ihrer Organisation zu weit gehen. So setzte ihn die NSDAP als kommissarischen Bürgermeister ab. Die eiskalten Karrieristen übernahmen. Helga Ullrich-Scheyda, in Kleve beheimatete Historikerin, hat sich lange und ausführlich mit der Zeit des Dritten Reichs auseinandergesetzt. Wer waren hier im Kleverland die Opfer, wer die Täter? Was trieb sie an? Wie erging es ihnen nach dem Krieg?

Vortragsreihe zum „Krieg am Niederrhein“

Die Frage, wer nun eigentlich die Nazis in Kleve waren, lockte nun mehrere Hundert Menschen in die Hochschule Rhein-Waal, wo Helga Ullrich-Scheyda die Ergebnisse ihrer Forschungen vortrug. Man musste sogar ins große Audimax wechseln, um all die vielen Interessierten unterzubringen. „Wir sind völlig überwältigt von dieser Resonanz“, freute sich dann auch Stadtarchivar Bert Thissen, der die dreiteilige Vortragsreihe zum „Krieg am Niederrhein“ gemeinsam mit der VHS und dem Klevischen Verein für Kultur und Geschichte organisiert hatte.

Anhand exemplarischer Typen – brutaler Nazi, Denunziant, Beamter, Richter, Musiklehrer – zeigte Ullrich-Scheyda, wie diese Klever aktiv mitmachten bei Entrechtung, Ausgrenzung, Deportation und Verteilung der Habe geflohener oder deportierter Juden. Ihr besonderes Augenmerk galt den Entnazifizierungsprozessen, die die Nazis durchlaufen mussten. Auf die Zuhörer von heute wirkte das durchaus schockierend. Wie etwa ein Richter, der in seinen Urteilen der Rassenpolitik der Nazis mit großer Eloquenz folgte, später nur als Mitläufer davon kam. Innerlich sei er kein Nazi gewesen, bescheinigten ihm Leumundszeugnisse. Dass ihn die Bevölkerung als Nazi wahrgenommen habe, liege nur an den Redewendungen, die er benutzen musste.

Befriedung der Gesellschaft

So ging es immerzu: Fast alle aktiven Nazis wurden zunächst mit Strafen belegt, im Berufungsverfahren dann aber weitaus milder beurteilt. „Ziel war es, das Kapitel so schnell wie möglich zu beenden“, sagte Helga Ullrich-Scheyda über die Entnazifizierung, die seit Oktober 1947 nicht mehr in Händen der britischen Militärregierung lag, sondern in deutscher Hand. Ihr Resümee: „Viele Verstrickungen blieben außen vor. Die Dimension der Verbrechen wurde nicht erkannt. Und man kann sehen, wie wichtig Netzwerke und gutes Auftreten waren.“

Der Schlussstrich, er wurde schon früh gezogen. Aber eben nicht endgültig, wie die Zeit von 1968 bis heute zeigt. Zuletzt stellte sie die wichtige Frage, wie man hätte anders vorgesehen sollen. Eine ausgegrenzte Randgruppe schaffen, die sich wieder radikalisiert? Letztlich ließ man in der Nachkriegszeit die Entnazifizierung scheitern, was moralisch äußert unbefriedigend ist, andererseits die Gesellschaft ein Stückweit befriedete.

Quelle: NRZ, Andreas Daams, 26.01.2020

 

Die Vortragsreihe wird am 20. Februar 2020 fortgesetzt.

Fotos: Rainer Hoymann, 24.01.2020